Der Faktor der Verwundbarkeit I

Menschen sind gegenüber kritischen Lebensereignissen, Frustrationen und Enttäuschungen unterschiedlich verwundbar. Seit etwa achtzig Jahren sucht man nach Faktoren, die erklären können, warum bei gleichartigen Belastungen der eine in eine psychische und psychosomatische Krise gerät, der andere nicht. Was ist zu diesem Problem zu sagen? Wir möchten sieben Bemerkungen machen. Sie sollen in das hier zur Diskussion stehende Thema einführen.

 

(1) Menschen zeigen bereits bei der Geburt unterschiedliche Verhaltens-und Erlebniseigenarten. Die einen sind vital-kräftig, robust, aktiv, unerschrocken, mit beachtlicher Fähigkeit, die Erwachsenen zur Zuwendung herauszufordern; die anderen sind vital-schwach, sensibel, schreckhaft, verhalten, mit geringer Appellationsstärke. Die einen schreien bei mißlichen Lagen, die anderen wimmern. Wie weit solche Unterschiede genetisch bedingt sind, ist schwer zu entscheiden, da der Mensch bei seiner Geburt ja schon neun Monate intensive Milieuerfahrungen hinter sich hat.

 

(2) Unsere jetzige Konstitution hängt keineswegs nur von diesen vorgeburtlichen Einflüssen und Entwicklungen ab, sondern von einer ganzen Kette von Erfahrungen während der frühen Kindheit und der Schulzeit, den Beziehungs- und Erziehungserfahrungen und von den weiteren Berufs- und Partnererfahrungen sowie kritischen Lebensereignissen. Beim Aufbau der Persönlichkeit haben vor allem die kritischen Ersterlebnisse positiver und negativer Art (z. B. erste Liebeserfahrung, erste Liebesenttäuschung) konstellierende Wirkung. Sie stärken uns in unserer Fähigkeit der Lebensbewältigung, machen uns ängstlich und unsicher, machen uns emotional stabil oder emotional labil. Es scheint so, daß hier ein zentraler Faktor der Lebensbewältigung sichtbar wird: die emotionale Stabilität bzw. emotionale Labilität.

 

(3) Wir haben aber auch Beweise dafür, daß jemand in seiner Kindheit und Jugend emotional stabil war, dann im weiteren Berufs- und Partnerleben durch besonders gravierende Schicksalsschläge - Niederlagen, Enttäuschungen, Demütigungen - verunsichert, also labilisiert wurde und so in einen psychischen und psychosomatischen Alarm- und Notzustand geriet. Die Kernstörung "emotionale Labilität, erhöhte Angstbereitschaft und Unsicherheit" haben wir zusammengefaßt als LAU-Syndrom bezeichnet. Dieses Syndrom ist der bei allen psychischen und psychosomatischen Beschwerden nachweisbare Neurotizismusfaktor.

 

(4) Wir gehen von der Annahme aus, daß etwa jeder dritte Mensch in unserer Industriegesellschaft von einem mehr oder weniger ausgeprägten LAU-Syndrom befallen ist. Begründen können wir diese Annahme von zwei Seiten her: von den Menschen selber und von der Gesellschaft, die sie sind und in der sie leben. Wir beobachten seit Jahrzehnten die Zunahme verschiedener Störungen, die man in drei Symptomgruppen aufteilen kann:

 

  a) Diffuse psychische und psychosomatische Symptome, wie erhöhte Angstbereitschaft, speziell soziale Ängste (etwa im Leben zu versagen, Mißerfolg zu haben, kritisiert, abgelehnt zu werden, Gefühle zu zeigen, besonders negative Gefühle, Angst vor Autoritätspersonen). Weiter beobachten wir leichte Erregbarkeit, Schwindelgefühle, Benommenheit, Taubheitsgefühle in den Händen; Abgespanntheit, leichte Ermüdbarkeit, wandernde Allgemeinschmerzen.
  b) Eine zweite Gruppe umfaßt die enger umschriebenen psychischen Symptome, wie Konzentrationsstörungen, Ruhelosigkeit, aggressive Impulsivität, depressive Verstimmungen, Gefühl der Verlassenheit, mangelnde Antriebskraft, Gefühle der Einsamkeit und Langeweile, Kontaktschwierigkeiten, Schüchternheit, Beeinträchtigungsgefühle, Schuldgefühle, Zwangsgedanken und Zwangshandeln, besonders verschiedene Kontroll- und Vergewisserungszwänge (reinigen, Tür abschließen, an- und ausziehen) und diverse Phobien (Furcht vor geschlossenen Räumen, vor Fliegen, vor Tunnelfahrten, vor Autofahren usw.).
  c) In der dritten Gruppe versammeln sich die enger umschriebenen psychosomatischen Symptome, wie Atembeschwerden, Herzbeschwerden, Durchblutungsstörungen (kalte Hände und Füße auch bei warmer Witterung), Kopfschmerzen, Magen-Darmbeschwerden, Völlegefühl, Verstopfung, Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen), Rückenschmerzen, Hals-Wirbel-Schulterschmerzen, rheumatische Beschwerden, Sexualstörungen und letztlich erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten.

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